Montag, 28. Januar 2013

Konzepte der Quellenkritik in der Forschungsgeschichte (Archäologische Quellenkritik III)


Rainer Schreg

Die Blogposts der kleinen Serie 'Archäologische Quellenkritik' gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen.


Wenn die "Pompeji-Prämisse" auch bei vielen archäologischen Interpretationen durchschimmert, die Notwendigkeit einer archäologischen Quellenkritik hat grundsätzlich schon die ältere Forschung erkannt. Sie beschränkte sich aber auf wenige, eher vordergründige Aspekte (z.B. Pescheck 1950, 97ff.). Jacob-Friesen etwa teilte 1928 die archäologischen Funde ganz einfach in drei Klassen ein: sicher, unsicher und gefälscht. Als sicher wurde ein Fund bestimmt, “wenn sich sein Fundort bestimmen läßt und sich sein Finder mit allen seinen Anga­ben als einwandfrei nachweisen läßt” (Jacob-Friesen 1928, 98f.).

Im 19. und 20. Jahrhundert gab es einige archäologische Affären, die Fundfälschungen zum Gegenstand hatten. So waren 1867 Fälschungen eiszeitlicher Kunst aus dem Kesslerloch bei Thayngen (Abb. 3.1) aufgeflogen, die die Diskussion um die Existenz der Eiszeitkunst neu anheizten (Lindenschmit 1876; Justus 2009). Im Falle des 1912 gefundenen Piltdown-Menschen gelang die Identifizierung als Fälschung erst mit neuen Methoden 50 Jahre später. So lange einzelne Objekte und deren stilistische und typologische Einordnung im Mittelpunkt stand, wie insbesondere auch bei primär als Kunst erachteten klassisch archäologischen Funde, galt das Hauptinteresse der Frage "echt oder gefälscht?"

Abb. 3.1 Die Fälschungen eiszeitlicher Kunst aus dem Kesslerloch
bei Thayngen und ihre Vorlagen aus Kinderbüchern
(nach Lindenschmit 1876 [public domain])

Die Einteilung von Funden nach Materialklassen wie Metall, Stein, Keramik oder Holz und nach Fundumständen bildeten die Anfänge einer weiterführende. Quellenkritik. Diese Einteilungen entstanden allerdings keineswegs aus kritischen Überlegungen und waren zunächst nicht mehr als ein Mittel musealer Präsentation und Inventarisation (Eggers 1986, 264).

Hatte man noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei einem Grabfund aus dem unterschiedlichen Erhaltungszustand von Skelett und Keramik in einem Grab auf deren unterschiedliches Alter geschlossen - das noch vollständige Gefäß musste viel jünger sein, da der Leichnam schon bis auf die Knochen vergangen war -, so erkannte man bald, dass unterschiedliches Material unterschiedliche Erhaltung nach sich ziehen kann (Sommer 1991, 54 f.).

Grundlegend war auch die Differenzierung von Grab-, Verwahr-, Einzel- und Siedlungsfund. Oscar Montelius befasste sich mit der Entstehung der einzelnen Fundarten und definierte auf dieser Grundlage auch seinen sicheren bzw. geschlossenen Fund (Montelius 1903). Dieses Konzept berücksichtigt nicht nur die Sicherheit der Auffindung und Beobachtung, sondern auch die Bedingungen bei seiner Niederlegung.

Hans Jürgen Eggers: Lebende und Tote Kultur

Einen wichtigen Einschnitt der deutschen Forschungsgeschichte hinsichtlich archäologischer Quellenkritik stellt zweifellos die 1959 in erster Auflage erschienene ‘Einführung in die Vorgeschichte’ von Hans Jürgen Eggers dar (Eggers 1989). Erstmals in der deutschen Archäologie erfolgte hier eine systematische Auseinandersetzung mit der archäo­logischen Quellenkritik (ansatzweise schon bei Eggers 1951, 267 f.). Neben Kapiteln zur Forschungsgeschichte, zur relativen und absoluten Chronologie und zur ‘ethnischen Deutung’ stellte er ein Schlußkapitel, das er mit “Archäologische These, literarische Antithese, historische Synthese” überschrieb.

Eggers untersuchte das normale Schicksal eines Gegenstandes, wobei er zwischen vergänglichen Materialien einerseits, für deren Erhaltung er primär “Einwirkungen der Natur” verantwortlich machte, und unvergängliche Materialien andererseits, deren Überlieferung in erster Linie vom Menschen abhängig ist, unterschied. Bei Stein- und Keramikartefakten verwies er auf das Unbrauchbarwerden und Wegwerfen, bei Metallgegenständen auf deren Einschmelzen als ihr jeweiliges normales Ende. Im weiteren arbeitete er die Unterschiede menschlicher Einwirkung auf die drei Hauptarten von Bodenfunden, Siedlungs-, Grab- und Hortfunden heraus (Tab. 3.1).


Grab
positive Auslese
aus bekannten Gründen
Grabbeigabe
Hort
positive Auslese
aus unbekannten Gründen
Hausschatz, Händler- oder Gießerdepot, Versteck in Kriegszeiten, Opfer, Weihe­gabe, Selbstausstattung für das Jenseits, Rechtsbrauch, magische Grenzmarkie­rung etc.
Siedlung
negative Auslese
aus unbekannten Gründen
Abfall
Einzelfund
negative oder posi­tive Auslese

Zufallsverlust/Einstückhort, Relikt einer anderen Fundart
Tab. 3.1. Grab-, Hort- und Siedlungsfund nach Eggers 1986.

Im Hinblick auf die Rolle von Quellenkritik und Erkenntniswege der Archäologie des Mit­telalter gewinnt ein weiterer Ansatz Eggers an Bedeutung: seine Differenzierung von leben­der, sterbender und toter Kultur. Ziel seiner Ausführungen war es, den grundlegenden Unterschied einer archäologisch faßbaren toten und einer lebenden Kultur aufzuzeigen. Letztere setzt sich aus geistiger und materieller Kultur zusammen, die uns beide bekannt sind: “Alles was wissenswert ist, kann der Forscher aus einem lebenden Volke herausfragen”. Im Gegensatz dazu sind bei der toten Kultur nur noch Einzelteile der materiellen Kultur bekannt, während das kulturelle Umfeld zunächst nicht erkennbar ist. Nur wenige Fakten wie Fundort, Fundumstände und die Form sind der direkten Beobachtung zugänglich.

Zwischen lebende und tote Kultur schob Eggers die sterbende Kultur, bei der es sich um kulturelle Elemente vergangener Zeit handelt, die sich im Rahmen der lebenden Kultur erhal­ten haben und damit gewissermaßen noch Teil dieser Kultur sind. Eggers machte hier anhand der Bestände des ehemaligen ‘Pommerschen Museums’ in Stettin, wo er von 1933 bis 1945 als Denkmalpfleger tätig war, eine Reihe interessanter Beobachtungen: Das überlieferte Sach­gut erreicht je nach dem gesellschaftlichen Stand seiner Besitzer unterschiedliches Alter (Abb. 3.2). Während aus dem kirchlichem Besitz die ältesten Gegenstände ins 12. Jahrhundert - in Südwestdeutschland sogar noch ins 8. Jahrhundert - gehören, reicht der Besitz von Adelsfamilien allenfalls ins 15. Jahrhundert, von Bürgerfamilien ins 17., allenfalls 16. Jahrhundert und von bäuerlichen Familien gerade noch ins 18. Jahrhundert zurück. In allen diesen Gruppen sind die Gegenstände der jüngsten Zeit am zahlreichsten vertreten.

Nach Eggers Definition befaßt sich die Archäologie des Mittelalters mit einer sterbenden Kultur, denn einzelne Elemente der einstigen Realität sind durchaus noch vorhanden. Das betrifft nicht nur ‘oberirdisch’ überliefertes Sachgut, auf das Eggers aus seinem vorgeschicht­lich-archäologischen Blickwinkel besonderes Augenmerk legt, sondern auch den noch vor­handenen mittelalterlichen Baubestand oder Schriftzeugnisse von archivalischen Beständen bis zu literarischen Werken, die eben auch noch einen Zugang zur geistigen Kultur erlauben.
Abb. 3.2. Sterbende Kultur in Westpommern nach Eggers 1986 (Graphik R. Schreg).


Michael Schiffer: Formationsprozesse

Im Gegensatz zur deutschen Archäologie setzte sich die angelsächsische Forschung seit den 1970er Jahren zunehmend mit den Problemen der archäologischen Datenbasis auseinander. Entsprechende Ansätze prägten schon die ‘Analytical Archaeology’ von David L. Clarke (Clarke 1968), dessen Interesse insbesondere räumlichen Verteilungsmustern sowohl in regionalem, wie in kleinräumigem Rahmen einer Artefaktverteilung, galt.

Seit 1972 hat Michael Schiffer (Schiffer 1972; 1983; 1987) vorrangig anhand nordamerikanischer Befunde die von ihm so bezeichnete "Formation" des archäologischen Befundes untersucht. Letztlich ging es ihm dabei darum, die Grundlage für weiterreichende Theorien seiner Interessensrichtung, der ‘behavioral archaeology’ zu schaffen. Die Grundlage seiner Analyse der Formationsprozesse liegt vorrangig in einer genauen Befundbeobachtung vor Ort auf der Grabung und allenfalls ergänzenden experimentellen oder ethnoarchäologischen Beobachtungen.

Abb. 3.3. Systemic context und archaeological context nach Schiffer 1972.
(Graphik R. Schreg)

Schiffer untersuchte so den Lebenszyklus einzelner Gegenstände, wobei er zwischen einem "systemic context" und einem "archaeological context" unterschied, ein Konzept, das Eggers lebender und toter Kultur nahekommt. Für den Lebenszyklus eines Gegenstandes sind fünf Aktivitätseinheiten oder Prozesse entscheidend (Abb. 3.3). Seine Unterscheidung zwischen dauerhaften und vergänglichen Gegenständen bezieht sich nicht auf die Erhaltungsfähigkeit im Boden, sondern auf ihren Gebrauchszyklus; der Begriff ‘vergängliche Gegenstände’ wäre besser mit "Konsumgüter" wiederzugeben.
Schiffer unterscheidet zwei Arten von Umwandlungsprozessen: 1. die kulturelle Transfor­mation, bei der menschliches Verhalten dafür verantwortlich ist, daß Objekte aus dem syste­mic context ausscheiden und 2. die natürliche Transformation, die die abgelagerten Gegen­stände über- und unterirdisch bis zur archäologischen Dokumentation weiter verformt.

Ein weiterer wichtiger Punkt in Schiffers Konzept ist die Unterscheidung verschiedener Abfallsorten: 1. De facto-Abfall,
2. primärer Abfall und
3. sekundärer Abfall (siehe Formationsprozesse und ihre Faktoren).

Lewis R. Binford: Middle-Range-Theories

Von besonderer Bedeutung für die Forschungsgeschichte archäologischer Quellenkritik sind die sogenannten ‘Middle-Range-Theories’ von Lewis R. Binford (Binford 1983). Der Ansatz ist dem von Schiffer eng verwandt, geht aber etwas darüber hinaus. Binford, einer der Begründer der New Archaeology, führte den Begriff der Middle-Range-Theory 1977 in die archäologische Literatur ein und griff dabei auf ein ähnliches Konzept der Soziologie zurück. ‘Middle-Range-Theory’ wird ins Deutsche gewöhnlich mit ‘Theorie mittlerer Reichweite’ übersetzt, besser wäre die Übersetzung als ‘Theorie mittlerer Ebene’. Ziel der Middle-Range-Theories ist es, zwischen den generellen kulturanthropologischen Theorien und dem archäologischen Befund zu vermitteln und als Voraussetzung weiterer Interpretation verläßliche Regeln für die Entstehung und Ausbildung archäologischer Befunde zu finden.
Die Grundlagen faßte Binford wie folgt zusammen:
“Middle-Range-Theory muß anhand be­kannter lebender Kulturen (Ethnoarchäologie) durchgeführt werden, oder dort, wo doch die wesentlichen Faktoren überliefert sind (historische Archäologie) oder wiederholt werden können (experimentelle Archäologie).” (Binford 1983, 49)

Binford selbst arbeitete vor allem über Wildbeuter-Gesellschaften und verwendete dement­sprechend vorrangig ethnoarchäologische Daten. Immer wieder betonte er jedoch die Bedeu­tung der historischen Archäologie für seine Middle-Range-Theory, ein Ansatz, der teilweise von seinen Schülern, wie z.B. Stanley South (South 1977) aufgegriffen wurde. Binford bezieht sich hier sicherlich mehr auf die historische Archäologie amerikanischer Prägung, doch bekommt hier auch die europäische Archäologie des Mittelalters eine Aufgabe zugewiesen.

1982 griff Richard Hodges in einem programmatischen Aufsatz Schiffers Formationsprozesse und Binfords Middle-Range-Theory für die Archäologie des Mittelalters auf. Wegen Schiffers breiter gefächerter Arbeitsweise und Binfords Spezialisierung auf Wildbeuter-Gesellschaften, sah er bei Schiffer die größere Bedeutung für die Archäologie des Mittelalters (Hodges 1982, 11).

Da es in der praktischen Anwendung nur geringe Unterschiede zwischen den Ansätzen Schiffers und Binfords gibt, hat Reinhard Bernbeck die Theorien jüngst einfach gleichgesetzt (Bernbeck 1997, 65 ff.), was indes nicht richtig erscheint. Während es Schiffer primär um die Entstehung des konkreten Befunde geht, faßt Binfords Middle-Range-Theory eher die gesellschaftlichen Voraussetzungen ins Auge, mit denen er einen Befund zu erklären versucht.

Heinrich Härke: intentionale und funktionale Daten


Ausgehend von der Gräberarchäologie hat Heinrich Härke 1993 in einem kurzen Artikel (Härke 1993. - Vergl. Härke 1994) intentionale und funktionale Daten unterschieden und auf entsprechende Überlegungen der Volkskunde und der Geschichtswissenschaft verwiesen. Hier sei nur auf die Differenzierung Droysens zwischen ‘Tradition’, also bewußter Überlieferung etwa durch Historiographen und ‘Überrest’, also archivalischen Schriftzeugnissen, verwiesen. Die Geschichtsschreibung ist ei­ne Darstellung in der der Schreiber sich selbst oder eine offizielle Sicht einbringt. Er wendet sich bewußt auch an die Nachwelt und tradiert so historisches Wissen. Tradition sind zumeist auch Urkunden - egal ob echt oder falsch - mit denen Ansprüche begründet werden sollen. Überrest hingegen sind etwa Rechnungen und Lagerbücher, aber auch die Masse der nicht ge­schichtsschreibenden Literatur.

In ähnlicher Weise ist zwischen den intentionalen Daten, die bewußt vom Menschen beein­flußt, und jenen ‘objektiven’ oder funktionalen Daten, die nicht direkte Folge bewußten menschlichen Handelns sind (Tab. 3.2), zu unterscheiden. Siedlungsbefunde sind daher meist funktionale Daten, Hortfunde hingegen intentionale Daten. Bestattungen sind zunächst Folge eines Rituales und damit intentionale Daten. Daneben stehen aber mit den Skelettresten und den beigegebenen Einzelobjekten auch funktionale Daten zur Verfügung (Abb. 3.4).


intentionale Daten   
funktionale Daten
Ritual
Ideal
Denken
Tradition
subjektiv
Realität
Wirklichkeit
Handeln
Überrest
objektiv


Tab. 3.2. Begriffspaare ähnlicher struktureller Beziehungen.

In Gräbern kommen sowohl intentionale wir funktionale Aspekte zum Ausdruck. Viele Elemente des Bestattungsbrauchs sind religiösen Vorstellungen oder sozialen Normen wie z.B. dem Habitus (Schreg u.a. 2012) unterworfen. Intentionale und funktionale Daten im Grabkontext sind nicht immer leicht zu unterscheiden: Die Gebrauchsspuren auf einem Gegenstand können für die Auswahl des Objektes unerheblich gewesen sein oder aber ausschlaggebend, weil es sich möglicherweise um das das dauernd gebrauchte Lieblingsobjekt des Verstorbenen handelt oder Gebrauchsspuren erst im Kontext des Bestattungsvorganges entstanden sind. Anhaftende organische Reste an Grabkeramik können aus deren alltäglichem Vorleben als Kochtopf entstanden sein oder eben erst beim Bestattungsritual. 

intentionale Daten
funktionale Daten
Bestattungsart
Bestattungsplatz
  Lage
Grabbau
  Grabgröße
  Grabtyp
  Totenlage
  Grabkennzeichung
Beigaben
Skelett
  postmortale Manipulationen
Skelett / anthropolog. Fakten
  Geschlecht
  Alter
  Körperbau/ -größe
  epigenet. Merkmale
  Krankheitsbilder
  Verletzungen
Einzelobjekte
  Größe
  Machart
  Abnutzungsspuren
  Beschädigungen
  Reparaturen

soziale Praxis
  Prestige
    des Bestatteten
    der Bestattenden
  Ritus
'natürliche' Rahmenbedingungen
funktionale Eigenschaften
im Kontext der Bestattung unbeachtete Eigenschaften
Abb. 3.4. Intentionale und funktionale Daten in der Bestattung (Graphik R. Schreg).

Härke kritisierte vor allem die positivistische Herangehensweise sowohl der deutschsprachi­gen Archäologie, als auch der britischen New Archaeology bei der Auswertung von Grabfun­den. Beide rechnen zwar mit der positiven Auslese der Beigabenausstattung, sehen sie aber gewissermaßen nur als Filter, der zwar gegenüber der einstigen Lebensrealität vieles beseitigt hätte, aber dennoch ein getreues, wenngleich fragmentarisches Abbild der einstigen lebenden Kultur gebe. Tatsächlich muß die aus Gräbern erschlossene Sozialhierarchie nicht der Realität entsprechen, sondern spiegelt viel eher deren Ideal wieder (Abb. 5). Darauf beruht denn letztlich der strukturalistische Ansatz Ian Hodders, der darauf abzielt, vergangene Vor­stellungen zu rekonstruieren (Hodder 1984).

Ulrike Sommer: archäologische Taphonomie

Wiederum eher den Ansätzen Binfords und Schiffers entspricht die Untersuchung von Ulri­ke Sommer (Sommer 1991; 1998). Entstanden ist ihre Arbeit im praktischen Zusammenhang der Auswertung des Fundmateria­les der jungneolithischen Siedlung Ehrenstein im Blautal (Lüning u.a. 1997). Wie Schiffer untersucht sie die Faktoren der Transformation des archäologischen Befundes, verwendet dabei aber Begriffe der paläontologischen Taphonomie. Der Begriff Taphonomie, aus griechisch taphos, Grab und nomos, Gesetz bezeichnet die Lehre von der Einbettung und von der Bildung der Lagerstätten ausgestorbener Tiere und Pflanzen.

Die Taphonomie unterscheidet verschiedene Arten der Vergesellschaftung, von der Bio­zönose bis hin zur Oryktozönose, die sich grob auf die Archäologie übertragen lassen (Tab. 3.3).


paläontolog. Definition
archäolog. Definition
Nach Schiffer 1972
Biozönose
eine Gruppe von Organismen, die zusammen an einem Ort leben
Lebensgemeinschaft
Gegenstände, die sich gemeinsam in Gebrauch befinden
systemic context
Thanatozönose
Reste von Lebewesen, die am selben Ort gestorben sind
Totengesellschaft
nicht mehr genutzte, aktiv oder passiv ausgesonderte Gegenstände
Taphozönose
Reste von Lebewesen, die am selben Ort abgelagert wurden, aber nicht notwendig dort starben
Grabgesellschaft
abgelagerte Gegenstände, die nicht mehr bewußt verlagert werden
archaeological context
Oryktozönose
Reste von Lebewesen, die gemeinsam fossiliert oder auf andere Weise überliefert wurden
Ausgrabungsgesellschaft
Fundvergesellschaftung im archäolog. Grabungsbefund
Tab. 3.3. Stufen der paläontologischen Taphonomie und ihre Anwendung in der Archäologie nach Sommer.

Sommer stellte mehrere Bedingungen für die archäologische Sichtbarkeit und Überlieferung auf. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt seien, können ein historischer Sachverhalt Eingang in die Ausgrabungsgesellschaft finden:

1. Die menschlichen Tätigkeiten müssen materielle Konsequenzen haben.
2. Diese materiellen Konsequenzen müssen die Möglichkeit der Erhaltung bieten.
3. Es müssen natürliche Vorgänge so auf diese materiellen Konsequenzen einer Handlung ein­wirken, daß sie konserviert werden.
4. Die Spuren müssen identifizierbar sein.
5. Die Redundanz der menschlichen Tätigkeit. Erst durch wiederkehrende menschliche Tätig­keit entsteht überhaupt ein Befund oder ein wiederkehrendes Muster, das erklär- und inter­pretierbar ist.
Die Punkte erscheinen im Grunde selbstverständlich. Die Bedingung der Redundanz bedarf aber vielleicht einer knappen Erläuterung anhand zweier Beispiele: Ein einmaliges Rasten einer Menschengruppe an einem Platz bringt kaum archäologisch faßbare Spuren. Erst mehr­maliges Aufsuchen einer Stelle hinterläßt greifbare Reste - gleichzeitig gibt es im Befund natürlich verunklarende Überlagerungen. Ein Einzelfund kann kaum erklärt werden. Erst das gehäufte Auffinden ähnlicher Funde in ähnlicher Situation ergibt ein besseres Bild im Sinne einer statistisch greifbaren Regelhaftigkeit. Eine einzelne mittelalterliche Lanzenspitze aus einem Alpental wird erst interessant, wenn man erkennt, daß solche Funde an hochgelegenen Seen oder nahe der Quellen kleiner Seitentäler auch abseits von Pässen und Saumpfaden sehr häufig und deswegen kaum zufällig sind (Schneider-Schnekenburger 1980).

Aus der Sicht der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit spielt die Bedingung der Redundanz eine geringere Rolle. Unter Umständen ist es hier möglich, daß durch eine parallele schriftliche Überlieferung auch ein individuelles Einzelereignis im archäologischen Befund erkannt werden kann, jedoch immer nur in einer Synthese mit historischen Quellen (z.B. der 1945 vergrabene Wettiner-Schatz: Oexle 1996).

Contextual archaeology

Im Zuge der neueren Post-processual archaeology, die die Individualität und das Verstehen (im Gegensatz zum Erklären) in den Vordergrund stellt, ist ein Ansatz von Ian Hodder sowie Shanks und Tilley zu sehen: die contextual archaeology (Hodder 1986; Shanks/Tilley 1992. - Vergl. Wolfram/ Sommer 1996). Sie stellt heraus, daß archäologi­sche Interpretationen immer von der Stellung des Forschers und des Faches in der Gesellschaft abhängig sind. Archäologische Interpretationen werden dadurch in hohem Maße relativiert, eine Objektivität des Faches bestritten und eine aktualistische und politisch aktive Arbeitsweise gefordert. John Moreland (Moreland 1991; 1997) propagierte diese Perspektive für die Archäologie des Mittelalters.

Eine wesentliche Rolle zum Verständnis dieser Forschungsrichtung spielt das Konzept der Hermeneutik. Die Hermeneutik wurde in der Post-Processual Archaeology jedoch erst in jüngerer Zeit bewußt zum Verständnis eines archäologischen Befundes herangezogen.

Für die Archäologie ist hier nun die Rolle der Gesellschaft von Bedeutung, in der der jeweilige Forscher arbeitet. Dabei geht es nicht nur um bewußte Geschichtsklitterung und gar Fälschung archäologischer Befunde, sondern auch um die eher unbewußten geistigen Vorgaben oder Schranken, die die Interpretation bestimmen und einschränken. Hier kommt die grundlegende Bedeutung der archäologischen Theorie ins Spiel - ob bewußt oder unbewußt: sie bestimmt die Ergebnisse der archäologischen Praxis in hohem Maße mit. Es ist daher nicht Aufgabe der Theorie, zu Interpretationen zu gelangen, sondern die Grundlagen der Interpretation zu refelektieren.

[zu Teil IV]

Literaturverweise

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