Donnerstag, 20. Juni 2013

Ratiaria – Die geschredderte Römersiedlung

ein Gastbeitrag
von Jutta Zerres

„Wozu treibst du nicht die Herzen der Menschen, verfluchter Hunger nach Gold!“ („Quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames„) heißt es in Vergils „Aeneis“ (3, 56-57). Dieses Zitat mag so manchem Archäologen ins Gedächtnis kommen beim Anblick der Kraterlandschaft, die sich heute östlich der modernen Stadt Arçar im Gebiet der antiken Siedlung Ratiaria in Nordwestbulgarien erstreckt.
Blick auf das Gelände von Ratiaria nach den Raubgrabungen.
Nur an einer Stelle sind Reste von Bauten stehen geblieben.
(Foto: Widintourist [CC BY-SA 3.0] via WikimediaCommons)

Die Trägödie begann mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Bulgarien und der darauf folgenden Wirtschaftskrise. Nachdem der Staat 1992 die finanzielle Förderung der Ausgrabungstätigkeit eingestellt hatte, machten sich die Anwohner von Arçar angelockt von der Möglichkeit Goldmünzen und andere wertvolle Dinge zu finden über die römische Siedlung her. Schon seit langer Zeit wurde erzählt, dass die Felder in der Gegend von Ratiaria nach starken Regengüssen von den freigespülten Goldmünzen regelrecht blinkten und funkelten.

Einer von zahlreichen Raubgrabungskratern im Gelände von Ratiaria
(Foto: Widintourist [CC BY-SA 3.0] via WikimediaCommons)

Zu den plündernden Anwohnern gesellten sich organisierte Banden; Korruption verhinderte ein effektives Vorgehen der Behörden. Das Areal wurde metertief mit schwerem Gerät umgegraben. Um keine Goldmünze und andere Preziosen zu übersehen schredderten die Raubgräber das gesamte Erdreich mit allen enthaltenen Kleinfunden, den Steinen und den Baumaterialien klein. Ratiaria ist das prägnanteste Beispiel für die Plünderungen und Zerstörungen an Kulturstätten in Bulgarien seit den politischen Umwälzungen im Ostblock am Beginn der neunziger Jahre.


Ratiaria auf einer größeren Karte anzeigen


Die Siedlung zählt zu den bedeutendsten in römischer und byzantinischer Zeit an der Unteren Donau: Im 1. Jahrhundert als Militärlager mit Zivilssiedlung gegründet, war sie ein Stützpunkt der Donau-Flotte und Legionsstandort. Nach der Ernennung zur Colonia Ulpia Traiana Ratiaria unter Kaiser Trajan im Jahre 106 erlebte sie eine wirtschaftliche Blüte. Es gab hier eine staatliche Waffenfabrik, die zu den größten im Römischen Reich zählte und eine Münzprägestätte. Im 3. Jahrhundert wurde hier das Verwaltungszentrum der Provinz Dacia ripensis angesiedelt und die Stadt erhielt einen Bischofssitz. 440 fielen die Hunnen mit großer Zerstörungswut ein und die byzantinischen Kaiser Anastasius I. und Justinian I. ließen die Stadt wiederaufbauen. Ein Überfall der Awaren 586 legte die Stadt endgültig in Schutt und Asche.

Nur wenige Bereiche der Stadt konnten in den Grabungskampagnen, die mit Unterbrechungen zwischen 1862 und 1991, durchgeführt wurden, fachgerecht ausgegraben werden und durch die tiefgreifenden Zerstörungen der Raubgräber müssen viele Fragen für immer ungeklärt bleiben. Beispielsweise wissen wir kaum etwas über die Topographie von Ratiaria. Wie groß war die Stadt eigentlich? Wo verliefen die Straßen, wo lagen Wohnquartiere oder öffentliche Bauten, wie Tempel  oder Badegebäude? Durch Überfliegen des Geländes in den achtziger Jahren haben italienische Archäologen ein Badegebäude entdeckt, das wohl das größte im Balkanraum war. Wir werden nie erfahren, wie diese prachtvolle Therme ausgestattet war, beispielsweise mit Wandmalereien oder Mosaikfußböden? Funde von Schmuckstücken, Sarkophagen oder Bronzestatuen belegen ein hochstehendes Kunsthandwerk in Ratiaria. Die Chancen über alle diese Dinge mehr zu erfahren, zu verstehen, unter welchen Bedingungen sich die Stadt entwickeln konnte, tendiert nun aber gegen Null.


Ratiaria auf einer größeren Karte anzeigen - Raubgrabungsspuren im Stadtgebiet

Der Bulgarische Archäologenverband (BAA) und die „Association Ratiaria“ haben bereits 2009 eine Petition und einen Spendenaufruf ins Leben gerufen und führen seither Rettungsmaßnahmen durch:

Wissenschaftlicher Artikel:

Filmdokumentation, SBS TWO,14.09.2009:

Links zu Onlineartikeln und Blogs (Auswahl) der letzten Jahre:

Interner Link:


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