Mittwoch, 25. Juni 2014

Der Mikwenskandal von Venlo - Archäologie unter Erfolgszwang

Ich möchte hier knapp einen Archäologieskandal aus den Niederlanden skizzieren, der 2013 die Provinz Limburg erschüttert hat. Ich bin insofern selbst involviert, als mein Name in einem Bericht von 2009 als einer der angeblich gehörten Experten auftaucht. Dabei bin ich nicht der einzige "Experte", der von der ganzen Sache erst im Rahmen journalistischer Recherchen gehört hat.    

In Venlo in den Niederlanden wurde 2004 bei einer Stadtkerngrabung ein mittelalterlicher Keller ausgegraben. Die Grabung wurde durch die Stadtarchäologie gemeinsam mit zwei Grabungsfirmen durchgeführt. Zur Grabung liegt ein fast 500 Seiten starker Bericht vor, der 2009 publiziert wurde.
So weit eine normale Stadtkerngrabung, bei der - jedenfalls nach deutschen Verhältnissen - allenfalls die rasche Publikation bemerkenswert ist.

Het Mikwe van Venlo
Die Mikwe von Venlo beim Transfer ins Museum
(Foto: FaceMePLS [CC BY 2.0] via WikimediaCommons)
Während der Grabung kam allerdings die These auf, dass es sich bei dem Befund um ein jüdisches Ritualbad, eine Mikwe handle. Hintergrund der These war, dass in der Grabungsfläche das Grundwasser sehr hoch stand und während der Grabung dieshalb die Überzeugung entstand, dass es sich hier um einen Keller mit besonderen Funktionen handeln müsse (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 303). Stadtarchäologe Maarten Dolmans vertrat sehr früh diese These, die sich verfestigte, noch lange bevor der Bericht vorlag. Der Befund datiert ins 13. Jahrhundert und wäre so die älteste Mikwe in der Benelux-Region und die früheste Keller-Mikwe.



Der Grabungsbericht von 2009 hat die These der Mikwe ausführlich verfolgt und dazu einige Argumente vorgebracht:
  • die Ritzung einer Menora auf einer der Mauern des Gebäudes (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 303)
  • prominente Lage am Markt (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 321)
  • frisches Grundwasser (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 327) - allerdings kein fließendes Wasser
  • dekorierte Nischen und Wasserbecken (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 327f)
  • ein knapper Abriß der Indizien für eine jüdische Präsenz in Veno, die aber erst für das 14. Jahrhundert gelten (Velde/Beerenhout u. a. 2009, 329f.)
Der gut 500 Seiten starke Grabungsbericht von 2009 schildert die Grabung sehr ausführlich und trennt dabei sauber die Befundbeschreibung von der Interpretation. Weitergehende Auswertungen beschränken sich auf Fundbestimmungen (wobei eine Darstellung etwa der vermutlich recht umfangreichen Keramikfunde im Bericht nicht enthalten ist, da dies ohne erheblichen Zeitaufwand unter Einhaltung der üblichen Standards [Katalog, Abbildung der wichtigsten Scherben mit Profil, Verteilungsanalysen] gar nicht zu leisten ist).
Da ich eben kein Experte für Mikwen bin, kann ich den Bericht inhaltlich ohne längere Literaturrecherchen nicht kompetent beurteilen - formal erscheint er mir die Grundanforderungen an eine Argumentation zu erfüllen: Eine Darstellung des Befundes und einer gesonderten Argumentation, die auf die lokalen Rahmenbedingungen wie auch auf Vergleiche eingeht (wobei letzteres etwas oberflächlich erscheint).

Millioneninvestition
Aufgrund der Bedeutung als Mikwe blieben die Befunde zunächst in der Baugrube unangetastet und wurden dann 2008 en bloc geborgen und auf Tieflader in einen extra neu gebauten Erweiterungsbau des Limburg-Museums überführt. Kosten: über eine halbe Million Euro.

Zum Skandal entwickelte sich die Geschichte, nachdem das Gerücht aufkam, einem Kollegen von Dolmans aus der Stadtarchäologie sei verboten worden, einen Artikel zu publizieren, der Zweifel an der Mikwen-Interpretation formuliert.
Ende August 2013 begann ein Regionalsender deshalb nachzuforschen und fand heraus, dass es zur Frage der Mikwe nur den Grabungsbericht, aber keine speziellen Expertisen gab. Stadtarchäologie und Museum verwiesen dabei auf den jeweils anderen. Ein unabhängiges Gutachten, auf das man sich vor dem Stadtrat zur Begründung der Millioneninvestition bezogen hatte, existiert nicht.
Die Nachforschungen erbrachten mehrere Problemfelder:
  1. Die Interpretation des Befundes an sich.
  2. Die Ritzung der Menora wurde erst nach der Ausgrabung angebracht und ist eine Fälschung 
  3. Die angeblich vorhanden unabhängigen Expertengutachten erwiesen sich als nicht existent.
  4. Eine Version des Grabungsberichtes für den Stadtrat unterschlägt die Zweifel an der Interpretation

Die Interpretation des Grabungsbefunds
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Gegenargumenten gegen die Interpretation des Kellers als Mikwe:
  • dekorierte Kellernischen kommen häufiger vor
  • fehlendes frisches Quellwasser - das für eine Mikwe erforderliche lebendige Wasser ist nicht überzeugend nachgewiesen. Es handelt sich um Grundwasser.
  • prominente Lage innerhalb der Stadttopographie ist eher untypisch
  • Datierung fraglich
  • keine Beweise für die Anwesenheit von Juden in Venlo (was aber durch eindeutige archäologische Zeugnisse durchaus korrigiert werden könnte!)
Eine solche konträre Diskussion wäre prinzipiell auch noch nicht weiter bemerkenswert. Archäologische Befunde unterliegen einer Diskussion und eine Neubewertung früherer Einschätzung ist nichts außergewöhnliches und Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Problematisch ist es, wenn Hypothesen sich im öffentlichen Bild als Tatsachen festsetzen. Die nötige Verifizierung erster Grabungsinterpretationen, die oft ohne ausreichend Zeit zur Konsultation von Literatur und Experten zustande kommen, ist oft nicht gegeben. Geld fließt für die Ausgrabung, nicht für die Auswertung. Im Falle von Venlo lag die Grabung zu wesentlichen Teilen in den Händen einer Grabungsfirma, deren Auftrag die Grabung und ein entsprechender Bericht dazu war - aber wohl kaum die wissenschaftliche Auswertung.

Fälschung
Inzwischen wurde indes bekannt, dass es sich bei der Ritzzeichnung der Menora um eine Fälschung handelt. Die Ritzung war erst nach der Grabung, beim Wiederaufbau im neuen Museum 2008 entdeckt worden. In der aktuellen Diskussion kamen Zweifel auf, zumal Grabungsmitarbeiter aussagten, die Ritzung sei bei der Grabung definitiv nicht vorhanden gewesen. Anhand der Fotodokumentation der Grabung scheint sich der Verdacht zu bestätigen: Auf Grabungsfotos von 2005 ist die Menora nicht zu erkennen, dennoch bleibt die Diskussion kontrovers. 

"Expertengutachten"
Die im Grabungsbericht von 2009 in einer Fußnote genannten Experten wurden angesichts nicht vorliegender Gutachten als die Gewährsleute der Interpretation angesehen. Die Fußnote könnte man zwar auch als bloße Danksagung an Kollegen verstehen, die durch knappe Literaturhinweise oder Vermittlung anderer Kollegen weitergeholfen haben. Nun aber wurden die Genannten in der Debatte vor städtischen Gremien aber offenbar als tatsächliche Unterstützer der Mikwen-These ins Feld geführt.
Ende August rief mich ein Journalist an und wollte mit mir über mein Gutachten zur Mikwe sprechen. Ich hatte aber überhaupt keine Idee, worum es ging, da ich zuvor noch nie mit der Mikwe in Venlo befasst war. Denkbar, dass es mal in Tübinger Zeiten 2004 oder 2005 ein Telefonat gab, aber nähere Informationen und Fragen zur Grabung und zur Mikwe jedenfalls hatte ich nie erhalten. Die weiteren Nachforschungen der Journalisten zeigten bald, dass auch die anderen angefragten Experten sich ebenfalls nie zum Befund geäußert hatten.
Neben der publizierten Fassung des Grabungsberichtes (Velde/Beerenhout u. a. 2009) gibt es offenbar weitere Versionen des Berichtes. Im Bericht, der dem Stadtrat vorgelegen hat, waren Zweifel an der Mikwen-Interpretation nicht mehr enthalten.

Der Hintergrund des Skandals
Es soll an dieser Stelle weder darum gehen, ob der Keller in Venlo nun eine Mikwe, ein Bierkeller oder eine Jauchegrube war - alles inzwischen vorgetragene Interpretationen - noch um die Frage, wer persönlich Schuld an der Situation hat. Interessant erscheint mir vielmehr, wie generell eine solche Situation entstehen kann: Eine archäologische Interpretation, die noch während der Grabung, also deutlich vor Abschluß der Auswertung entsteht, wird zum Selbstläufer und verfestigt sich - im konkreten Fall mit finanziellen Auswirkungen für die Stadtkasse - und wohl auch für den Bauherren, dessen Bauplatz auf Jahre hinaus freigehalten werden musste, ehe entschieden werden konnte, was mit der 'Mikwe' geschehen sollte.

Deutlich wird die enorme Bedeutung der Auswertung einer Grabung, die die Öffentlichkeit meist gar nicht registriert - und für die, jedenfalls in Deutschland, auch meist gar kein Geld da ist. Selbst bei einem Verursacherprinzip werden in der Regel nur die reinen Grabungskosten, aber nicht der Aufwand für die Auswertung berücksichtigt. Auswertungen laufen daher in den meisten Fällen als universitäre Abschlußarbeiten - mit anderen Worten durch Wissenschaftler, die noch relativ geringe eigene Erfahrungen mitbringen und in der Regel die auszuwertende Grabung nie selbst gesehen haben. Planbar ist so etwas nicht, da nicht abzusehen ist, ob in absehbarer Zeit ein geeigneter Kandidat gefunden werden kann. Zudem erweisen sich 'einfache' Grabungsauswertungen oft als ungeeignet für eine Abschlußarbeit, da sie mehr den Fleiß und die Geduld als die wissenschaftliche Leistung erfordern. Letztlich ist es auch eine Ausnutzung von Studierenden, die sich nicht selten selbst um die notwendige Finanzierung etwa durch die Bewerbung für Stipendien kümmern müssen.

Ein weiterer Aspekt der Affäre um die Mikwe von Venlo ergibt sich vor dem Hintergrund einer Neuorganisation der Bodendenkmalpflege, die die Niederlande in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Denkmalpflege wurde dezentralisiert, die Zuständigkeit ging auf relativ kleine, regionale archäologische Abteilungen über, denen es zwangsläufig - unabhängig von der unveränderten Kompetenz der einzelnen Kollegen - an Expertise fehlen muss. Für spezielle Funde, wie es eine Mikwe zweifellos darstellt, ist es in den betreffenden kleinen Ämtern eben nicht mehr so leicht, die nötige Fachkenntnis zu finden. Outsourcen aber ist mit Kosten verbunden.

"unwissenschaftlich, betrügerisch und irreführend"
Anfang Dezember 2013 wurde der Bericht eines unabhängigen Experten vorgelegt. Der Archäologe Louwe Kooijmans war vom Venloer Rechnungshof mit der Untersuchung beauftragt worden. Darin wird die Information von Seiten der Stadtarchäologie als "unwissenschaftlich, betrügerisch und irreführend" bezeichnet.

Im Februar 2014 fand nun eine Tagung statt, auf der die Befundsituation nochmals in größerem Kreis diskutiert wurde. Archäologen wie Historiker kamen zu dem Schluß, dass es keinerlei Belege für die Mikwen-These gäbe.
Letztlich ist festzustellen, dass die Affäre ins Rollen kam, weil die Interpretation regulär der Kritik eines Kollegen ausgesetzt war. Dass man hier möglicherweise von Seiten der Stadt versucht hat, eine Publikation zu unterdrücken, ist ein leider kaum aufgegriffener Aspekt des ganzen Skandals. Mit der primären Dokumentation des Grabungsbefundes war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Befund auch Jahre nach der Grabung möglich. Zuletzt hat die Wissenschaftlichkeit m.E. doch gewonnen, auch wenn die Frage der Konsequenzen für die Verantwortlichen unklar bleibt.  

Koojmans meint, dass die Kommunen, die eine Stadtarchäologie unterhalten, aus den Vorkommnissen lernen müssen. Die Art und Weise, wie die Forschungen zur angeblichen Mikwe in Venlo durchgeführt wurden, brächten die Archäologie in Verruf.
Archäologieförderung nur noch für eindeutige Befunde?
Problematisch erscheint aber, dass in den Niederlanden nun unter Verweis auf den Fall in Venlo städtische Rechnungshöfe beginnen, die Förderung archäologischer Projekte in Frage zu stellen, bei denen keine eindeutige Interpretation möglich ist. In Nijmegen ergibt sich eine solche Diskussion aus einem nicht klar datierbaren Befund einer möglicherweise römischen Wasserleitung. Archäologische Befunde sind, gemessen an historischen Kategorien und am Einzelfall, aber eben nicht immer eindeutig. Kontroverse Diskussionen schmälern ihren historischen Quellenwert und Denkmalcharakter nicht, sondern sind im Gegenteil jene Situationen, die wissenschaftlichen Fortschritt bringen. Möglicherweise sind sie auch ein Teil dessen, was Archäologie einem Publikum vermitteln kann.
So oder so ist es falsch, wenn politische Erwartungen - auf ein bürokratiekonformes Produkt oder spezieller auf eine museal präsentierbare Sensation oder genereller - die Wissenschaft unter Erfolgszwang setzen.

    ergänzende Links


    Literaturhinweis

    Ich hoffe, ich habe die ausschließlich niederländischen Berichte ausreichend verstanden, so dass die Fakten hier zutreffend wiedergegeben sind. Für die Hilfe bei der Lektüre und einige Hintergrundinformationen möchte ich einigen Kollegen aus den Niederlanden danken, die teils nicht explizit genannt werden möchten.





    1 Kommentar:

    Anonym hat gesagt…

    Allgemein zur Argumentation pro Mikwe könnte man sicherlich die Kölner Mikwe anführen, die äußerst prominent im Stadtzentrum lag und auch nur durch Grundwasser gespeist wurde.