Samstag, 12. Januar 2013

Von der vergangenen Realität zur rekonstruierten Realität (Archäologische Quellenkritik I)

Rainer Schreg

Die Blogposts der kleinen Serie 'Archäologische Quellenkritik' gehen auf ein Manuskript zurück, das 1998 für ein Oberseminar am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen entstanden ist, das ich gemeinsam mit Frau Prof. Scholkmann angeboten hatte. Eine immer wieder angedachte Publikation ist aufgrund anderer Projekte nie zustande gekommen. Ich stelle sie hier als Blogposts ein, wobei nur minimale Bearbeitungen und Aktualisierungen erfolgen.

Die Archäologie - gleich welcher Fachrichtung oder theoretischer Ausrichtung - bemüht sich um die Rekonstruktion einer vergangenen Realität. Quellen unserer Kenntnis und gleichzeitig unsere archäologische Datenbasis sind materielle Überreste - Funde und Befunde. Sie sind einerseits direkt von der vergangenen Realität abhängig und andererseits grundlegend für unsere Rekonstruktion der Vergangenheit (Abb. 1). Da der Archäologe durch seine Geländetätigkeit aktiv an der Erweiterung der Datenbasis arbeitet, ist seine Datenbasis nicht nur den Formationsprozessen der Überlieferung ausgesetzt, sondern kann auch durch moderne Faktoren beeinflußt werden. Aussagen anderer Quellen, moderne Forschungsergebnisse, aber auch unser eigenes gesellschaftliche Umfeld wirken auf die Datenbasis zurück.

Abb. 1.1 Vergangene Realität und rekonstruierte Realität
(Graphik R. Schreg)

Solche Probleme wurden bislang vor allem in der angelsächsischen Theoriediskussion aufgegriffen, haben in Deutschland aber nur geringe Resonanz gefunden. Diese allgemein zu konstatierende ablehnende Haltung gegenüber theoretischen Reflektionen innerhalb der deutschen Archäologie ist in der Archäologie des Mittelalters noch viel stärker ausgeprägt. Das ist bis zu einem gewissen Grad sicher forschungsgeschichtlich bedingt. Die deutsche Archäologie des Mittelalters ist aus der Praxis entstanden. Da das Fach zudem immer wieder als eine historische Disziplin aufgefaßt wurde, sah man keinen Anlaß, sich etwa mit der "ahistorischen" New Archaeology zu befassen (Fehring 2000, 194f.). Letzteres dürfte Grund sein, daß sogar in Großbritannien die Medieval Archaeology nur auffallend selten theoretische Themen aufgreift.

Tatsächlich hat die Archäologie des Mittelalters aber einen ganz erheblichen Bedarf an Theoriebildung. Der Diskussion kulturanthropologisch-soziologischer Konzepte kann die Archäologie des Mittelalters nicht dadurch aus dem Weg gehen, indem sie sich auf die Geschichtswissenschaften beruft, wurde und wird dort doch bis heute selbst eine Diskussion um "Geschichte als historische Sozialwissenschaft" geführt.



Die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit arbeitet in historischen Zeiträumen. In weit höherem Maße als die Ur- und Frühgeschichte ist sie auf die Zusammenarbeit mit ihren Nach­bardisziplinen - der traditionellen Schriftquellenforschung, der historischen Siedlungsgeo­graphie, der Architektur- und Kunstgeschichte - angewiesen. Informationen aus schriftlichen Texten, egal ob sie wie die Geschichtsschreibung absichtlich mit dem Ziel einer historischen Darstellung oder in Alltagsgeschäften niedergeschrieben wurden und uns unabsichtlich als historische Quellen dienen, Informationen aus bildlichen Darstellungen, aber auch über dem Boden erhaltene Bauten und Gegenstände treten neben unsere archäologischen Quellen. Das daraus resultierende Problem der Interdisziplinarität ist bislang vorwiegend auf einer praktischen Ebene diskutiert worden, wo es im wesentlichen darum ging, ob der Archäologe zugleich Historiker sein solle, oder ob die Devise "getrennt marschieren, vereint schlagen" nicht angemessener sei (Fehring 2000, 196). Als erkenntnistheoretisches Problem wurde die Synthese ver­schiedener Quellenstränge bisher aber kaum gesehen (Vergl. etwa zum Problem Archäologie und Naturwissenschaften: Eggert 1998; zusammenfassend zu Archäologie und Geschichte Schreg 2007).


Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen einer praktischen Synthese der Informationen aus den verschiedenen Quellen wurden kaum je diskutiert. Ein bewußtes Auseinandersetzen mit diesen Aspekten verspricht aber auch einen bewußteren Umgang mit den sehr unterschiedlichen Quellenaussagen.

Bis heute ist die Archäologie des Mittelalters eng an die Ur- und Frühgeschichte ange­bunden. H. Jankuhn hatte das Fach als eine direkte Fortsetzung der vor- und frühgeschicht­lichen Archäologie, und zwar sowohl nach Problemstellung wie nach methodischem Ansatz." (Jankuhn 1973) verstanden. Diese enge Anbindung kommt nicht nur in der universitären Situation zum Tragen, wo die Archäologie des Mittelalters meist im Rahmen der Ur- und Frühgeschichte betrieben wird, sondern äußert sich auch darin, daß die Archäologie des Mittelalters dieselben Methoden benutzt wie die Ur- und Frühgeschichte und das Potential paralleler Überlie­ferungsstränge kaum nutzt. Erst ganz langsam löst sich das Fach und integriert andere Frage­stellungen, vor allem aber auch andere Methoden. So ist in jüngster Zeit eine zunehmende Integration der Bauforschung und ihrer Methoden in die Archäologie des Mittelalters festzustellen (Schäfer 1997; Scholkmann 1998, 16f.).

Die Existenz anderer Überlieferungen kann nicht ohne Konsequenzen für die archäologische Methodik sein. Beispielsweise kommt der 'historischen' Datierung in der Archäologie des Mittelalters eine viel größere Bedeutung zu, als in der Ur- und Frühgeschichte, wo man lange Zeit versucht hatte, historische Daten aus dem östlichen Mittelmeerraum bis nach Zentral­europa zu übertragen. Daneben gibt es hier aber auch immer wieder die Möglichkeit auf archäologischem Wege gewonnene Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer Überlieferungs­stränge zu konfrontieren und in einem gewissen Grade auch zu kontrollieren. Hier kann auch ein Potential zur Weiterentwicklung archäologischer Methode liegen.

Das Mittelalter ist eine Epoche, die im Lauf der Geschichte höchst unterschiedlich bewertet wurde. Es reicht von der Auffassung als reiner Übergangsperiode zwischen Antike und Renaissance bis hin zur identitätsstiftenden Epoche; das populäre Bild vom Mittelalter ist bis heute klischeebeladen (Althoff 1992; Pernoud 1979).

Gerade eine Archäologie des Mittelalters, die sich als eine historische Wissenschaft versteht, muß sich dieser theoretischen Aspekte bewußt sein, um "die Einbindung ihrer Ergebnisse in eine Synthese, erarbeitet im Verbund mit all jenen Fächern, die die Geschichte (des Mittelalters) in ihren vielfältigen Manifestationen erforschen" (Scholkmann 1998, 18) wirklich zu erreichen und hierzu einen verwertbaren, relevanten Beitrag zu leisten.

Ganz entscheidend für eine Synthese unterschiedlicher Quellenstränge ist es, die Natur der jeweiligen Quellen zu erfassen. Grundlegend dazu ist die archäologische Quellenkritik und das Verständnis der sogenannten Formationsprozesse.

Quellenkritik besteht nicht nur in der Auswertung und kritischen Interpretation eines konkreten Grabungsbefundes. Analyse und Interpretation etwa eines konkreten Grabungs­profiles bilden nur den allerersten Schritt. Für die Forschung ist es indes meist wichtiger, sich vom einzelnen Objekt zu lösen und zu einer Gesamtschau zu kommen. Wie sind die Quellen zueinander in Beziehung zu setzen?

Archäologische Quellenkritik beschränkt sich deswegen auch nicht allein auf die Frage der Formation der Datenbasis, sondern beinhaltet auch die Frage nach den jeweiligen Erkenntnis­wegen, die uns von der archäologischen Datenbasis zu einer rekonstruierten vergangenen Realität führen oder anders formuliert, sie beinhaltet auch die Frage des methodischen Vorge­hens bei der Verknüpfung von Archäologie und Geschichte, die schon im Vorausgehenden thematisiert worden ist.

Es sollte keiner Erklärung bedürfen, daß das, was im archäologischen Befund wahr­genommen werden kann, nicht die historische Wirklichkeit selbst ist. Wie in Platons Höhlengleichnis müssen wir zwischen Abbild und Realität unterscheiden. Wichtigste Aufgabe der archäologischen Quellenkritik ist es daher, unsere Datenbasis in ihren Eigenheiten und ihrem Zustandekommen zu erkennen und zu verstehen. Man sagt, die Daten seien “formatiert”. Dabei müssen wir zwischen natürlichen und kulturellen Faktoren unterscheiden. Das Aussondern der kulturellen Formationsprozesse ist ein erster wichtiger Schritt zur Re­konstruktion der Vergangenheit.

[zu Teil II]

Literaturverweise


Althoff 1992
G. Althoff, Sinnstiftung und Instrumentalisierung: Zugriffe auf das Mittelalter. In: G. Althoff (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter (Darmstadt 1992) 1-6.

Eggert 1998
M.K.H. Eggert, Die fremdbestimmte Zeit: Überlegungen zu einigen Aspekten von Archäologie und Naturwissenschaft. Hephaistos 8, 1988, 43-59.

Fehring 2000
G. P. Fehring, Die Archäologie des Mittelalters. Eine Einführung. 3. Aufl. (Stuttgart 2000).

Jankuhn 1973
H. Jankuhn, Umrisse einer Archäologie des Mittelalters. Zeitschr. Arch. Mittelalter 1, 1973, 9–19.

Pernoud 1979
R. Pernoud, Überflüssiges Mittelalter? Plädoyer für eine verkannte Epoche (Zürich, München 1979).

Schäfer 1997
H. Schäfer, Archäologie des Mittelalters - Archäologische Bauforschung - Bauforschung. Arch. Ausgr. Bad.-Württ. 1997, 206-208

Scholkmann 1998
B. Scholkmann, Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit heute. Eine Standortbestimmung im interdisziplinären Kontext. Zeitschr. Arch. Mittelalter 25/26, 1997/98, 7-18.



Schreg 2007
R. Schreg: Archäologie der frühen Neuzeit. Der Beitrag der Archäologie angesichts zunehmender Schriftquellen. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18, 2007, 9-20.


Nachtrag (15.1.2013)
Verweis auf Schreg 2007

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